ANSTÄNDIG GEBLIEBEN
ein kooperatives Projekt


„Die Zivilisationskatastrophe der Jahre 1933 – 1945 hat […] in dem hohen Grad an Freiwilligkeit bei der Beteiligung an Taten bestanden, deren Amoralität ganz außer Frage stand.“
(Jan Philipp Reemtsma)

AUSCHWITZ ist das Synonym für die Gräueltaten des NS-Regimes, aber er steht auch für die stillschweigende Duldung und Teilhabe – sowie die aktive Teilnahme – des deutschen Volkes an Ausgrenzung, Internierung und Vernichtung seiner als Untermenschen bezeichneten sogenannten Feinde.

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Mit zunehmender zeitlicher Distanz wird der Nationalsozialismus wieder bagatellisiert (A. Grosser). Die Zahl der Zeitzeugen wird von Jahr zu Jahr geringer. Es bleibt ein historisiertes Zeugnis.
Aber Auschwitz verlangt eine künstlerische, eine kulturelle, eine soziologische Auseinandersetzung.
Das Projekt soll in Zusammenarbeit mit interessierten Partnern (Schulen, Vereinen, Künstlern, etc.) in verschiedenen Sparten (Spiel, Tanz, Musik, Dramaturgie) entwickelt und realisiert werden.
Die Lesung Auschwitz & das gesunde Volksempfinden bereitet thematisch das Projekt vor.

Dauer: September 2018 - Dezember 2019
Leitung: Christoph Wehr 
Anmeldungen bis 30.Juni 2018
Koproduktion mit WildWuchs Theater e.V.

Idee und Thema des Projektes:


Die Idee zum Projekt basiert auf zwei Überlegungen, einer politischen und einer kulturellen.
Politisch orientiert sich das Projekt an der wieder aufflammenden Debatte um eine deutsche Leitkultur, einer national begründeten Identität, die an eine emotionale Zugehörigkeit appelliert. Aber wie definiert sich ein „deutsches Gefühl“? Wenn es nicht um dumpfen Nationalismus geht, dann wird hier ein moralischer Wertekanon ausgerufen, der unserer Nation zu eigen sei.
Steht der nicht im Grundgesetz? Was verbindet uns Deutsche denn darüber hinaus? Bedarf es einer Ergänzung der staatsrechtlichen Definition? 1935 wurden in Nürnberg die „Gesetze zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ erlassen. Sie spiegeln den Begriff einer überhöhten Eigenwahrnehmung durch Ausgrenzung und Abwertung allen „undeutschen“ Seins und führten in eine Vernichtungsstrategie.

Der kulturelle Angelpunkt, soweit nicht auch der ein Politikum darstellt, orientiert sich an der Frage nach der Definition des Begriffs Kultur. Ist [unsere] Kultur ein nationales Alleinstellungsmerkmal, ein exklusiver also ausgrenzender Wert, den es zu schützen und zu bewahren gilt? Welche Einflüsse können wir dann zulassen, welche nicht? Die [deutsche] Kultur war und ist ein gesellschaftlich-dynamischer Prozess, also im ständigen Wandel begriffen. Wenn wir diesen Wandel gestalten wollen, dürfen wir eine gesellschaftliche Flexibilität, eine Offenheit anderen Einflüssen gegenüber nicht verlieren, denn Kultur ist ein vereinender, ein inklusiver Wert.
Auch hier zeigt uns das dritte Reich die fatale Entwicklung eines staatlich bestimmten Kulturverständnisses, denn ihr lag ein hierarchischer Begriff zugrunde. Nicht die Gesellschaft, sondern die Partei definierte und trennte guter von schlechter Kultur.

Angesichts der gesellschaftspolitischen Entwicklungen in Deutschland, die mit Ängsten und Radikalisierungen einher gehen, ist die Auseinandersetzung mit dem politischen System des Nationalsozialismus und seinen Auswirkungen auf das gesellschaftliche [Er-]leben von elementarer Bedeutung. Damals gestattete ein hemmungsloser Nationalismus die Vernichtung aller als „Volksfeind“ definierter Menschen. Das Ergebnis ist bekannt, seine gesellschaftlichen Wurzeln aber blieben zunächst weitgehend unbeachtet. Seine Aufarbeitung war primär schuldbesetzt und bestimmt durch Distanzierung oder die Berufung auf den Befehlsnotstand. Das kollektive [nationalsozialistische] Bewusstsein hat jedoch diese Gesellschaft entscheidend geprägt, ohne ihre stillschweigende Akzeptanz ist die Entwicklung von 1933 – 1945 nicht denkbar.
Heute, in einer Zeit, in der die persönliche Beteiligung schon zwei oder drei Generationen zurückliegt, können wir uns diesem Phänomen auf künstlerischer Ebene nähern. Das Theater, als Raum der gesellschaftlichen Verdichtung und Reflexion, bietet uns Möglichkeiten, die im theoretischen, intellektuellen Bereich nicht existieren. Wir suchen nach kreativen, spielerischen Möglichkeiten einer gesellschaftlichen Annäherung, Erkenntnis und Aufarbeitung.


Formale Ziele des Projektes:


Das Projekt ist prozessorientiert und sucht Kooperationspartner in Schulen, Vereinen, Jugendinitiativen, bei freien Künstlern, Musikern, Filmemachern, etc., die inhaltliche Teilbereiche zentral übernehmen und unter der Leitung von Christoph Wehr (WildWuchs Theater e.V., drama-tisch) zu einem Gesamtprojekt zusammenführen.
Das Projekt soll insbesondere verschiedene künstlerische Sparten (darst. Spiel, Musik, Tanz, Film) mit ihren speziellen Ansätzen ansprechen.
Wir suchen in der Erarbeitung Wege und Darstellungsformen, die eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, der einhergehenden Überhöhung der nationalen Identität, der Ausgrenzung, sowie der daraus folgenden Menschenverachtung und Vernichtung erfahrbar machen.
Mit dem Verstreichen der Zeit und dem damit verbundenen Versterben der Zeitzeugen wollen wir künstlerische Zugangsformen entwickeln, die einen emotionalen und konkreten Zugang ermöglichen.
Die Fakten der Menschenvernichtung sind unvorstellbar, sie entziehen sich unserer Vorstellungskraft, sodass wir Wege entwickeln müssen, die das Grauen konkret werden lassen. Verschiedene Wege sind dabei schon beschritten worden, z.B. die Personalisierung der Opfer, die Dramatisierung von Einzelschicksalen, die chorische Aufarbeitung, die Dokumentation, u. v. a. Diese Herangehensweisen wollen wir experimentell erweitern und verbinden.
Eine Sicht aus der Täterperspektive soll das Bild vervollständigen und eine Einfühlung in diese Sichtweise möglich machen. Der Gewinn aus dieser Erweiterung lässt die permanente Gefahr, die aus Stigmatisierungen und Ausgrenzungen entstehen, lebendig werden. Aktuelle Bezüge werden sichtbar.
Am Ende des Projektes sind mehrere Aufführungen (bis max. Ende Dezember 2019) geplant.


Mögliche Schwerpunkte des Projektes:


  • gemeinschaftsstiftender Antisemitismus

  • Kunst und Kultur im dritten Reich

  • Auseinandersetzung mit dem Holocaust an sich

  • [industrielle] Ausbeutung und Vernichtung von „unwertem Leben“

  • Moralischer Anspruch des NS-Regimes

  • Rechtfertigung der Täter und Mitläufer

  • Empfinden der Opfer

  • Gesellschaftsstruktur innerhalb der Konzentrationslager

  • Gesellschaftliche Verarbeitung vor, während und nach dem Auschwitzprozess.

Die Auseinandersetzungsmöglichkeiten oder -notwendigkeiten innerhalb dieses Themas scheinen fast zu komplex, um in einem Projekt verwirklicht zu werden. Schon die grobe inhaltliche Strukturierung zeigt die Schwierigkeiten, die eine kausale Verknüpfung, vom politischen Begriff zum soziologischen, zum moralischen, zum psychologischen, mit sich brächte. Auch in der Reihung vom Individuum zur [Volks-]gemeinschaft tauchen vielfältige Abhängigkeiten auf, die nicht zu mono-kausalen Begründungen verknappt werden können.


Hier offenbaren sich die Möglichkeiten des Theaters. Kunst, Kultur und Spiel, seine zentralen Fundamente, ermöglichen eine affektive Herangehensweise und Strukturierung des Projektes, die jenseits eines wissenschaftlichen, bzw. akademischen Lehrbegriffes stehen.
Das Projekt und seine Schwerpunkte werden sich im gemeinsamen Arbeitsprozess entwickeln.